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AutorenbildJulia Bittruf

Realistisch Zeichnen lernen: Wie die alten Meister

Ein intensives Training in Proportionen, Licht und Schatten – wie ich meine Zeichenfähigkeiten auf ein neues Level gebracht habe.


Collage aus drei Studien von Julia Bittruf nach Vorlagen von Charles Bargue und eine Aktzeichnung einer jungen Frau

Nach drei Jahren als freischaffende Grafikdesignerin wollte ich endlich meinem Wunsch nachgehen, als Illustratorin zu arbeiten. Wie viele andere Zeichner hielt jedoch auch ich mein Portfolio noch immer nicht für gut genug, um mich damit zu bewerben.

Außerdem war es schon immer mein Ziel, das Handwerk des realistischen Zeichnens zu beherrschen – etwas, das sowohl im Kunst-Leistungskurs meines Gymnasiums als auch im Designstudium viel zu kurz kam. Nachdem ich ein Jahr lang immer wieder nach einer passenden Schule gesucht hatte, entschied ich mich für das Barcelona Atelier of Realist Arts, da es für mich das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bot.


Vom 11. April bis zum 24. Juni 2016 war ich in Barcelona. Während dieser Zeit sammelte ich viele neue Eindrücke und Erlebnisse, vor allem jedoch bekam ich enorm viel Input zu Zeichentechniken. Ich glaube, in diesen wenigen Monaten habe ich mehr über das Zeichnen gelernt als in meiner gesamten Schul-, Praktikums- und Studienzeit zusammen. Es war jedoch nicht einfach, in so kurzer Zeit eine bezahlbare Wohnung zu finden und mit dem Mix aus Spanisch, Katalanisch und Englisch zurechtzukommen.


Obwohl draußen die Sonne schien und das Meer nicht weit war, stand ich in einem kühlen Atelierraum mit künstlichem Licht. Gleich in der ersten Stunde erklärte man mir, dass ich meinen Bleistift völlig falsch hielt. Zudem musste ich spezielle Materialien und Papier besorgen, die ich zuvor noch nie verwendet hatte. Gemütlich sitzen? Fehlanzeige. Ein richtiger Künstler zeichnet im Stehen. Das war in den ersten zwei Stunden noch okay, doch nach der dritten Stunde begannen Füße, Arme und Rücken zu schmerzen. Zusätzlich fühlte ich mich, als würde ich mit der falschen Hand zeichnen, da ich die korrekte Stifthaltung nicht gewohnt war. Nach sechs Stunden fühlte ich mich wie nach einem anstrengenden Tag beim Kellnern und bekam dann das freundliche Angebot des Schulleiters, noch zwei Stunden länger zu bleiben, um schneller Fortschritte zu machen. Obwohl ich schon mein ganzes Leben lang zeichne, wurde mir bewusst, wie schwer es mir immer noch fällt, Dinge wirklich realistisch wiederzugeben.


Der Kurs orientierte sich an der Zeichenschule von Charles Bargue.


Erste Brague-Studie oder 5 Schritte zum realistischen Zeichnen lernen

  1. Schulung des Striches: In der ungewohnten Haltung versuchte ich zunächst, gerade und vor allem weiche, zarte Linien zu ziehen.

  2. Schulung des Blickes: Mit einer roten Schnur und einem Gewicht durfte ich Maße von drei bis vier Punkten nehmen, um Proportionen mit Augenmaß zu übertragen. Die Lehrer korrigierten Schritt für Schritt und zeigten mir, welche Flächen oder Formen millimetergenau angepasst werden mussten. Es war ziemlich deprimierend, stundenlang an den Grundformen einer Ferse zu arbeiten.

  3. Wahrnehmen von weichen und harten Konturen: Meine einfachste Übung war die sogenannte Wurstlinie – eine Linie, die wacklig, zu dick und wenig ansprechend war. Diese wurde vom Lehrer entfernt, und ich durfte sie erneut versuchen.

  4. Wahrnehmen von Schattenlinien: Zu verstehen, wo genau die Schattenlinie sein muss und warum sie an beiden Seiten weich gezeichnet werden sollte, kostete mich mehrere Wochen. Meine übliche Herangehensweise war nicht effizient und führte nicht zum optimalen Ergebnis.

  5. Wahrnehmen von Halbtönen: Die Halbtöne zu setzen fiel mir etwas leichter. Dennoch musste ich lernen, deren Weichheit, Umfang und das Verhältnis der Tonwerte korrekt zu ordnen.


    Studie einer Ferse nach Charles Bargue

Erste Übungen: Aktzeichnen

Auch beim Aktzeichnen war es entscheidend, wo die Staffelei stand, wo das Papier positioniert war und aus welcher Perspektive man die Figur betrachtete. Dass ich das trotz mehrerer Aktzeichenkurse in Deutschland zuvor nie gelernt hatte, ärgerte mich. So geht es also wirklich! Drei Stunden pro Tag arbeiteten wir mit kurzen Pausen von fünf bis fünfzehn Minuten an einer Pose. Zeichnen lernen ist harte Arbeit.


Collage aus dem Foto eines Zeichensaals mit Staffeleien und zwei Aktskizzen


Zweite Brague-Studie

Die zweite Brague-Studie fiel mir schon etwas leichter, und inzwischen fühlte sich die korrekte Stifthaltung normal an. Mit dem Ergebnis war ich zufrieden.


Cover eines Zeichenbuches nach Charles Bargue, und Zeichnung von Julia Bittruf


Cast-Zeichnen (Zeichnen nach Gipsabguss)

Das Zeichnen mit Kohle in verschiedenen Härtegraden war für mich neu. Ich lernte, den Gipsabguss aus der Entfernung zu betrachten, mir das Gesehene zu merken, zum Papier zu gehen und aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Jeder Strich wurde anschließend erneut aus der Entfernung kontrolliert.


Akademische Zeichnung des Gipsabgusses einer Nase


Long Pose

Zum Abschluss sollte ich das Gelernte in einer langen Akt-Pose umsetzen. Das heißt, ein Modell steht mehrere Tage in derselben Pose und unter denselben Lichtverhältnissen. Da ich jedoch nicht jeden Tag am Kurs teilnehmen konnte, konzentrierte ich mich auf Proportionen und Linien mit einer kleinen Variation von Tonwerten.


Collage aus sechs Zeichnungen die den Schritt für Schritt Prozess einer Aktzeichnung zeigen.


Fazit

Abschließend kann ich sagen: Ein intensives Training in realistischer Zeichnung ist nichts für Menschen, die einfach nur aus Spaß zeichnen, denn die Übungen sind anspruchsvoll und erfordern viel Durchhaltevermögen. Doch für alle, die sich auf diesem Gebiet weiterentwickeln oder das Zeichnen beruflich nutzen möchten, lohnt sich der Aufwand.

Auch wenn es das Barcelona Atelier in seiner damaligen Form nicht mehr gibt, bin ich dankbar für die Erfahrungen und das Wissen, das ich dort sammeln konnte. In der kurzen Zeit, die ich in Barcelona verbrachte, habe ich enorm viel gelernt und war hoch motiviert, das Gelernte in meine Illustrationen – insbesondere mit Kugelschreiber – einfließen zu lassen.

Ich bin überzeugt, dass es auch heute in anderen Schulen und Programmen Möglichkeiten gibt, ein solch fundiertes Training zu erhalten. Wer bereit ist, sich intensiv mit Proportionen, Lichtverhältnissen und realistischer Darstellung auseinanderzusetzen, wird in diesem Bereich immer etwas dazulernen können.


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